eCall-System kann Leben retten

08. Nov. 2020 Fahrzeugtechnik

Kommt es trotz aller Systeme der passiven und aktiven Sicherheit zu einem Unfall mit Verletzten, entscheidet unter Umständen ein frühzeitig abgesetzter Notruf gerade bei schweren Verletzungen über Leben und Tod.

Während deshalb bei neuen Pkw-Modellen mit EU-Typgenehmigung nach dem 31. März 2018 der eCall bereits ein verpflichtender Bestandteil ist, besteht für Motorräder noch keine eCall-Pflicht. Der Nutzen dieses Systems liegt dessen ungeachtet auf der Hand – insbesondere bei Alleinunfällen, bei dem Motorrad und Aufsassen nach einem Unfall für nachfolgende Verkehrsteilnehmer unter Umständen nicht zu erkennen sind und es keine Unfallspuren gibt. Wenn der Fahrer nach dem Unfall nicht selbst Hilfe rufen kann, kann ein eCall-System wie beim Pkw die Rettungskette schneller aktivieren und den Unfallort genau lokalisieren.
Grundsätzlich gibt es zwei Arten des Systems. Auf der einen Seite ein fest verbautes System wie beispielsweise den „Intelligenten Notruf“ von BMW, auf der anderen Seite eine Nachrüstlösung wie „dguard“ von Digades. Das Funktionsprinzip des eCall-Systems im Motorrad unterscheidet sich nicht von dem im Pkw verbauten System. Soll heißen: Der eCall wird automatisch aktiviert, wenn Sensoren einen schweren Unfall registrieren. Sobald das System aktiviert ist, wählt es die hinterlegte Telefonnummer, in Europa also entweder die europäische Notrufnummer 112 oder diejenige eines ständig besetzten Callcenters. Voraussetzung hierfür ist freilich eine flächendeckende Netzabdeckung. Das System übermittelt dem Empfänger Daten zum Unfall, genauer gesagt einen Minimaldatensatz mit Angaben zu Zeitpunkt, Standort und Fahrtrichtung. Dazu wird bei vielen Systemen eine Sprechverbindung aufgebaut. Der eCall ist auch manuell per Knopfdruck auslösbar.
Spezielle Anforderungen im Motorradbereich erschweren jedoch die Auslegung des Auslösealgorithmus. Denn es gibt bestimmte Situationen, in denen das System nicht auslösen darf. Zu diesen sogenannten Misuse-Fällen zählen zum Beispiel das Fahren über Rüttelschwellen, über Kopfsteinpflaster, über Bahnübergänge, Gleise oder Brückengelenke sowie durch Schlaglöcher mit jeweils unangepasster Geschwindigkeit. Außerdem das Fahren auf dem Hinterrad, das Überbremsen des Vorderrads, Gefahrenbremsungen mit ABS oder „Stotterbremsen“, das Umkippen im Stillstand, das Aufund Abfahren von Bordsteinen mit unangepasster Geschwindigkeit, das Fahren mit geringer Geschwindigkeit entlang einer Mauer, das Hinauf- beziehungsweise Herunterfahren von Treppen und Rampen sowie das kontrollierte „Driften“ über das Vorder- beziehungsweise Hinterrad.
Im Rahmen einer Studie hat DEKRA den Einsatz von eCall-Systemen für Motorräder anhand von realen Motorradunfalldaten betrachtet. Hierzu wurden 100 Unfälle mit Motorradbeteiligung aus Deutschland analysiert. Bei der Analyse wurde festgestellt, dass bei 59 Prozent der Verletzten das eCall-System dazu beigetragen hätte, die Verletzungen schneller zu behandeln beziehungsweise zu versorgen und die daraus resultierenden Unfallfolgen zu mindern. 46 der 115 Unfallbeteiligten verstarben noch an der Unfallstelle, neun Prozent der Unfälle wurden nicht sofort erkannt. Unter diesen gab es zwei Unfälle, bei denen die Aufsassen und das Kraftrad nach dem Unfall für andere Verkehrsteilnehmer nicht sichtbar waren und die Fahrer aufgrund ihrer Verletzungen und des zu späten Eintreffens der Rettungskräfte am Unfallort verstorben sind. Hier hätte ein verbautes eCall-System mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Leben gerettet. In 19 Fällen war das Bordnetz nicht mehr funktionstüchtig und durch den Unfall zerstört. Deswegen kann auf eine interne Notstromversorgung des eCall-Systems auf keinen Fall verzichtet werden.
Fazit: Das eCall-System für Motorräder kann Leben retten und die Unfallfolgen mildern. Gerade Motorradfahrer sind grundsätzlich immer einem höheren Unfallrisiko ausgesetzt. Folglich könnte eines der zuvor beschriebenen eCall-Systeme im Falle eines Unfalls schneller einen Notruf absetzen, die Kette der professionellen Hilfe würde umgehend beginnen und den Unfallopfern könnte die notwendige Versorgung schneller und präziser erbracht werden. Gerade Alleinunfälle, bei denen Fahrer und Motorrad „spurlos“ verschwinden, weil sie zum Beispiel eine Böschung hinunterrutschen oder vom Buschwerk am Straßenrand verdeckt werden, könnten durch dieses System adressiert werden, zumal die Fahrer oftmals nicht mehr in der Lage sind, manuell einen Notruf abzusetzen. Ein solches in der EU für neue Kraftradtypen inzwischen vorgeschriebenes System ist absolut positiv zu bewerten und aus Sicht der DEKRA Unfallforschung auch im Zuge der Nachrüstung empfehlenswert. Gleichzeitig sind aber herstellerseitig noch weitere Forschung und Arbeit am System notwendig, um Fehlauslösungen durch sogenannte Misuse-Fälle zu reduzieren und die Grenzen der Systeme zu erweitern.