Hoher Optimierungsbedarf in vielerlei Hinsicht

20. Mai 2021 Infrastruktur

Neben fahrzeugspezifischen Sicherheitselementen und dem Faktor Mensch spielt zur Erhöhung der Verkehrssicherheit von Senioren – ob als Kraftfahrer, Fußgänger oder Radfahrer – auch die Straßeninfrastruktur eine entscheidende Rolle. Im Fokus müssen dabei eine möglichst selbsterklärende, wenig komplexe und fehlerverzeihende Gestaltung, der Erhalt der Nutzbarkeit durch regelmäßige Instandhaltung, Reinigung und Schneeräumung sowie die schnelle Optimierung nach dem Erkennen von Schwachpunkten stehen.

Hamburg, Waitzstraße, eine beliebte Einkaufsmeile – und gleichzeitig über viele Jahre deutschlandweiter Spitzenreiter bei Schaufensterunfällen. Nirgendwo sonst in Deutschland, und vielleicht auch sonst auf der Welt, fuhren so viele Menschen, vorwiegend Senioren, mit ihren Fahrzeugen bei Einparkversuchen in die Schaufensterscheiben der anliegenden Geschäfte. Die Liste der diese Unfälle begünstigenden Einflussfaktoren ist lang. So ist die hohe Dichte von Arztpraxen, gepaart mit einer Vielzahl attraktiver Geschäfte, ein Anziehungspunkt für die große Zahl im Einzugsbereich lebender aktiver Senioren. Die vielen praktischen Parkplätze direkt vor den Geschäften sind für Menschen mit Problemen beim Gehen eine große Erleichterung. Gleichzeitig ist die stark befahrene Einbahnstraße relativ schmal – aus den Schrägparkplätzen auf die Fahrbahn zurückzusetzen ist, bei eingeschränkter Beweglichkeit des Oberkörpers und dem fließenden Verkehr, durchaus komplex. Ist dabei der falsche Gang eingelegt oder wird, begünstigt durch die Drehung des Oberkörpers, das Gas- anstelle des Bremspedals getreten, ist der Weg ins Schaufenster kurz.

INFRASTRUKTURPLANUNG MUSS ALLE FORMEN DER VERKEHRSBETEILIGUNG BERÜCKSICHTIGEN

Um das aus solchen Situationen entstehende Risiko zu reduzieren, wurden bauliche Vorkehrungen in Form von Stahlpollern mitsamt Betonfundament getroffen, die das Überfahren des Gehwegs verhindern sollen. Wie viele andere Verkehrsunfälle mit Senioren haben auch die Vorkommnisse in der Waitzstraße in den Medien eine breite Resonanz erfahren – häufig dahingehend, dass ältere Menschen eine Gefahr im Straßenverkehr darstellen. Doch wie auch in diesem Report immer wieder betont, sind Senioren keineswegs in erster Linie Gefährder, sondern Gefährdete – vor allem, wenn sie als Fußgänger oder Radfahrer am Straßenverkehr teilnehmen. Die Fälle machen aber auch die Rolle der Infrastruktur im Hinblick auf das Unfallrisiko bestimmter Nutzergruppen deutlich. Optimierungen müssen hier mit dem Ziel der Unfallvermeidung angegangen werden, Maßnahmen zur Unfallfolgenminderung dürfen dabei nur als schnelle Zwischenlösung gelten.

VERKEHRSANLAGEN FÜR FUSSGÄNGER MÜSSEN BEGREIFBAR UND UMWEGFREI SEIN

Um ganz allgemein die Sicherheit von Fußgängern zu erhöhen, hat der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) unter anderem unter Mitwirkung von DEKRA in einem Beschluss vom 28. Oktober 2020 zahlreiche Empfehlungen abgegeben. Diese Empfehlungen zielen auf Fußgänger jeden Alters ab, allerdings betont der DVR, dass die Verbesserung der Verkehrssicherheit insbesondere den Anforderungen von Kindern, Älteren und Menschen mit Mobilitätseinschränkungen gerecht werden müsse. Von einem „Design für Alle“ würden dann auch alle anderen Fußgänger profitieren. Grundsätzlich, so heißt es in dem Beschluss, müssten die Belange des Fußverkehrs überall dort, wo er auftritt oder zu erwarten ist, berücksichtigt werden. Vor allem an Innerortsstraßen mit Kfz-Verkehr sollten zusammenhängende und barrierefreie Fußverkehrsnetze mit direkten und umwegfreien Verbindungen sowie sicheren Querungsstellen geschaffen werden. Wichtig sei eine verständliche und übersichtliche Gestaltung der Verkehrsanlagen – sie müssen für alle Verkehrsteilnehmer möglichst barrierefrei, erkennbar, begreifbar und frei von Sichthindernissen sein.
Zur Sicherung von Querungen seien je nach Örtlichkeit Lichtsignalanlagen, Fußgängerüberwege (Zebrastreifen), Mittelinseln oder vorgezogene Fahrbahnränder vorzusehen. Querungsmöglichkeiten müssten dabei möglichst so gestaltet werden, dass auch mobilitätseingeschränkte Personen, etwa mit Geh- oder Sehbehinderungen, sicher die Straßenseite wechseln können. Hierzu gehören insbesondere der Einbau von taktilen Elementen, Bordsteinabsenkungen und eine kontrastreiche Verkehrsraumgestaltung. An Lichtsignalanlagen sollten akustische beziehungsweise blindengerechte Signalgeber installiert und mindestens die langsamere Gehgeschwindigkeit älterer Menschen bei der Ampelschaltung berücksichtigt werden. Darüber hinaus sollten Querungsstellen und Gehwegbereiche zur Verbesserung der Erkennbarkeit von Fußgängern bei Dunkelheit angemessen beleuchtet werden. Zugleich könnten niedrige Fahrgeschwindigkeiten helfen, Verkehrsunfälle zu vermeiden oder zumindest die Verletzungsschwere zu reduzieren. Gerade für Senioren und Menschen mit Gehbehinderung sind bei vielen Fußgängerampeln die Grünphasen und die Räumzeiten, also der Zeitraum zwischen Rot für Fußgänger und Grün für den Kraftverkehr, zu knapp bemessen. Bei der Festlegung der Schaltzeiten müssen realistische Gehgeschwindigkeiten von Senioren als Maßstab angelegt werden. Eine zusätzliche Countdown-Anzeige der verbleibenden Zeit des Grünlichts unterstützt Senioren bei der Entscheidung, ob sie die Fahrbahn noch überqueren oder lieber auf die nächste Grünphase warten wollen, wobei hiervon Fußgänger sämtlichen Alters profitieren würden. In Bereichen, wo viele Personen zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs sind, sollten Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung ergriffen werden.

SENIOREN AUF DEM RAD

Wie gefährdet Senioren als Fußgänger im Straßenverkehr sind, unterstreicht nochmals ein Blick in die Statistik: 2019 wie auch im Corona-Jahr 2020 machte die Altersgruppe 65+ in Deutschland knapp 60 Prozent aller bei Verkehrsunfällen getöteten Fußgänger aus. Bei den Radfahrern ergibt sich mit etwa 56 Prozent ein vergleichbar hoher Anteil. Um das Unfallrisiko zu senken, sind wesentliche Aspekte – wie im DEKRA Verkehrssicherheitsreport 2020 „Mobilität auf zwei Rädern“ schon ausführlich dargestellt – der verkehrssichere Ausbau des Radwegenetzes und die Pflege der Radwege. Der Ausbau des Radwegenetzes erfolgt zwar vielerorts, nicht überall bieten die Fahrspuren aber den gewünschten Schutz für die Benutzer. Speziell innerorts, wo zwischen den Häusern selten Platz für einen baulich abgetrennten Radweg ist, müssen sich Radfahrer die Fahrbahn oftmals in Form von Radfahr- oder Schutzstreifen mit dem dichten motorisierten Verkehr teilen – abgetrennt, wenn überhaupt, nur durch auf den Boden aufgemalte Markierungsstreifen, die, wenn sie älter und abgefahren sind, zudem kaum noch erkannt werden können. Genau wie auf Fahrbahnen ohne Radfahrstreifen besteht hier die große Gefahr, von Kraftfahrzeugen, insbesondere Lastwagen, gestreift sowie beim Rechtsabbiegen dieser Fahrzeuge abgedrängt oder sogar überrollt zu werden. Wo es für die Radfahrer eigene Radwege gibt, besteht die Problematik vor allem in der unzureichenden Abgrenzung zum Gehweg und der schlechten Markierung von Ausfahrten. Oftmals enden die Fahrradwege auch einfach ohne vorherigen Hinweis. In Sachen Verkehrsplanung gibt es hier noch sehr viel Optimierungsbedarf.

FALSCHFAHRTEN AUF AUTOBAHNEN

Ein nicht zu unterschätzendes Risiko im Straßenverkehr sind Senioren als „Geisterfahrer“. Zum Thema „Falschfahrten auf Autobahnen“ hat bereits 2012 die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) eine Studie veröffentlicht, in die 526 nachweislich stattgefundene Falschfahrten aus den Jahren 2005 bis 2011 eingeflossen sind. Unter den Falschfahrern, bei denen im Nachhinein das Alter festgestellt werden konnte, waren Senioren mit rund einem Drittel überproportional häufig vertreten. Eine Erklärung hierfür könnte laut den Autoren dieser Studie sein, dass Jüngere im Vergleich zu Älteren eher in der Lage sind, „eine unbewusst begonnene Falschfahrt zu erkennen und zeitnah zu korrigieren“. Ebenso konstatieren die Autoren, dass der Zusammenhang zwischen Falschfahrten und Orientierungsschwierigkeiten vornehmlich bei älteren Personen (65 Jahre und älter) und tagsüber festzustellen sei. Zudem kämen bei Älteren auch häufiger geistige und/oder körperliche Beeinträchtigungen zum Tragen.
Die Ergebnisse der BASt-Studie bestätigen auch vergleichbare Studien etwa aus den USA oder Japan. So hat zum Beispiel eine Untersuchung von Falschfahrten im US-Bundesstaat Alabama gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, in einen Falschfahrer- Unfall verwickelt zu werden, bei Fahrern im Alter von mindestens 65 Jahren knapp siebenmal so hoch ist wie bei jüngeren Fahrern. Eine Studie aus Japan ergab, dass 52 Prozent der Falschfahrer- Unfälle von Fahrern verursacht wurden, die 65 Jahre oder älter waren.
Tendenziell werden Falschfahrten niemals ganz zu verhindern sein. Insbesondere dann nicht, wenn Kraftfahrer vorsätzlich falsch handeln und zum Beispiel absichtlich an Anschlussstellen falsch auffahren, auf Richtungsfahrbahnen wenden oder unter Alkohol- oder Drogeneinfluss stehen. Dennoch lässt sich aber zumindest die Gefahr des versehentlichen Falschfahrens durch geeignete Maßnahmen, die den Kraftfahrern helfen, sich (intuitiv) richtig und frühzeitig zu orientieren, deutlich reduzieren. Diese Maßnahmen sollten daher bei der Umsetzung zukünftiger Straßenbauvorhaben sowie bei turnusmäßigen Überprüfungen der Infrastruktur berücksichtigt werden. Maßnahmen, etwa im Bereich der wegweisenden Beschilderung, der Verkehrszeichen und/oder der Markierung, können einen Teil dazu beitragen, Verkehrsteilnehmer im Hinblick auf eine korrekte Fahrt zu unterstützen. An ausgewählten Autobahnabschnitten wird in verschiedenen EU-Staaten bereits mittels eindrücklicher Beschilderung davor gewarnt, in falscher Richtung aufzufahren. Wesentliche Ansatzpunkte zur Senkung der Zahl unbeabsichtigter Falschfahrten sind eine eindeutige und selbsterklärende Verkehrswegegestaltung und eine klare und gut verständliche Beschilderung. Es sind damit die Ansatzpunkte, mit denen infrastrukturseitig generell eine Risikoreduktion erreicht werden kann – unabhängig vom Ort und der Art der Verkehrsbeteiligung.

INTERMODALES ROUTING ÜBER VERSCHIEDENE VERKEHRSTRÄGER

Wie auch immer der Weg von A nach B zurückgelegt wird: Die Diskussion zur Zukunft der Mobilität und Verkehrspolitik wird weltweit intensiv geführt. Sie greift dabei Trends und Herausforderungen, wie soziale Differenzierung, demografischen Wandel und kulturelle Aspekte, in ihrer Bedeutung für Mobilität und Verkehr aus sozial-ökologischer Perspektive auf. Dabei stellt sich wiederkehrend die Frage, wie eine nachhaltige Mobilitätskultur für eine sich weiter differenzierende, pluralisierende und auch alternde Gesellschaft unter dem Aspekt multioptionaler Verkehrsangebote aussehen kann.
Eines von vielen Problemen: Speziell in ländlichen Gebieten ist Mobilität für viele Menschen ohne eigenes Auto nur bedingt praktikabel – erst recht in der Altersgruppe 65+. Selbst in den verhältnismäßig dicht besiedelten Ländern Westeuropas bestehen im ländlichen Raum häufig nur unzureichende Angebote eines öffentlichen Verkehrs in der Fläche, um eine unabhängige Fortbewegung zu garantieren. Auch ist das Fahrrad – zumindest in bergigen Regionen und über größere Entfernungen – keine geeignete Alternative, um aus kleinen Gemeinden in die nächstgelegenen Mittelzentren zu gelangen. Hier stellen jedoch E-Bikes zumindest eine zunehmend genutzte Alternative dar. Um Mobilität in ländlichen, dünn besiedelten Regionen auch ohne eigenes Auto zu gewährleisten, sind deshalb alternative ÖPNV-Angebote gefragt. Sogenannte flexible Bedienformen oder Bedarfsverkehre weisen hier mögliche Wege auf.
Die Zukunft hat bereits in einigen Städten und Regionen Einzug gehalten und bietet der Bevölkerung sogenannte People Mover – also Omnibusse, die fahrerlos (jedoch bis auf Weiteres mit einer Begleitperson) eine vorgegebene Route bedienen und wie ein Linienbus an festen Haltestellen Personen zu- oder aussteigen lassen. Vorliegende Studien zu Einstellung, Akzeptanz und Nutzungsintention Älterer zur Mitfahrt in fahrerlosen Shuttles vermitteln jedoch bislang ein uneinheitliches Bild bei der Annahme solcher Mobilitätsangebote. Dessen ungeachtet ergibt sich in Verbindung mit Shuttlediensten, künftig sogar ab der Haustür zum Beispiel bis zu den jeweiligen Haltepunkten etwa schienengeführter Verkehrsmittel, eine gute Perspektive für die Verkehrsanbindung gerade auch der älteren Landbevölkerung an die urbanen Lebensräume. Möglicherweise sind fahrerlose Shuttles auf dem Land als Anbindung an den konventionellen ÖPNV auch eine eher beherrschbare Alternative als die heute anvisierte schnelle und umfassende Umstellung des multimodalen Verkehrsgeschehens in und zwischen den Ballungszentren auf hoch beziehungsweise voll automatisiertes Fahren.

INTEGRATIVE MOBILITÄTSKONZEPTE

Zum Erhalt der eigenständigen Mobilität im Sinne einer aktiven Teilhabe an der Gesellschaft nimmt insbesondere in den Industrieländern heute das Auto bis ins hohe Alter eine dominante Rolle ein. Gewohnheitsbildung, Komfort und Effizienz dieser Mobilitätsform, gemeinsam mit Sekundärmotiven wie der Freude am Fahren und dem Bedürfnis nach Individualität und Unabhängigkeit, tragen wesentlich zur wahrgenommenen Attraktivität des Autos auch unter den älteren Menschen bei. Damit eng verknüpft ist die Zufriedenheit älterer Menschen und deren empfundene Lebensqualität.
Soll der Umstieg zum Beispiel auf den ÖPNV eine Option sein, bedarf es integrativer Mobilitätskonzepte, die selbstverständlich auch ältere Menschen einbeziehen. Wichtige Impulse hierfür lieferte unter anderem das von 2011 bis 2013 durchgeführte und von der EU geförderte Projekt TRACY (Transport Needs for an Aging Society). Erklärtes Ziel war die Entwicklung eines Aktionsplanes, der helfen soll, die Herausforderungen an das Verkehrsangebot in einer alternden Gesellschaft anzugehen.
Nach der Zusammenstellung sowie der Analyse und Bewertung der bestehenden Strategien für alle Landverkehrsmittel aus den EU-Mitgliedstaaten sowie von Vergleichsländern (Schweiz, Norwegen, USA, Australien, Neuseeland und Japan) wurden Lösungsvorschläge für die Mobilitätssicherung älterer Menschen erarbeitet und zugleich die Anforderungen an ein altersgerechtes Verkehrssystem definiert. Dieses müsse insbesondere leicht zugänglich, erreichbar, verfügbar und barrierefrei sein. Außerdem komfortabel, verständlich und effizient. Darüber hinaus sollen sich ältere Menschen willkommen fühlen und nicht als Beförderungs- oder gar Störfall behandelt werden. Weitere Eigenschaften sollten schließlich ein hohes Maß an Zuverlässigkeit, Sicherheit (im Sinne der Verkehrssicherheit wie auch des persönlichen Sicherheitsgefühls), Benutzbarkeit und Transparenz sein.
Die im Rahmen von TRACY formulierten Empfehlungen können durchaus als universelle Gestaltungslösungen angesehen werden. Für die jeweilige Umsetzung vor Ort sollte dabei stets folgende Maxime gelten: Auch nach der Verabschiedung aus der automotiven Mobilität haben ältere Menschen das Recht auf ein Verkehrssystem, das zum Erhalt ihrer Lebensqualität und Zufriedenheit beiträgt.
Dennoch wird die Nutzung des eigenen Pkw durch Senioren auch in Zukunft ein wesentlicher Baustein der individuellen Mobilität bleiben oder sogar in seiner Bedeutung zunehmen. Trotz immer besserer Alternativangebote müssen die Belange älterer Pkw- Fahrer bei der Infrastrukturplanung und -gestaltung noch intensiver als heute berücksichtigt werden.