Unfallvermeidung durch Fahrerassistenzsysteme
Allein schon diese wenigen Fakten aus Deutschland, die in weiten Teilen der Welt mehr oder weniger in ähnlicher Form zu konstatieren sind, untermauern die Notwendigkeit, nachhaltig gegenzusteuern. Zum Beispiel in Bezug auf Unfälle am Stauende, die für die Fahrzeuginsassen große Risiken bergen. Insbesondere unter Beteiligung schwerer Güterkraftfahrzeuge kommt es hier immer wieder zu schwer verletzten und getöteten Insassen. Fährt ein Lkw mit großer Differenzgeschwindigkeit auf einen stehenden oder langsam fahrenden Pkw auf, sind beim Pkw extreme Deformationen zu erwarten. Häufig werden mehrere Fahrzeuge ineinander geschoben. Beim Auffahren eines Lkw auf einen anderen Lkw erleiden die Insassen des auffahrenden Lkw oftmals schwerste Verletzungen. Aber auch das Auffahren eines Pkw auf einen vergleichsweise langsam fahrenden oder stehenden Lkw endet nicht selten tödlich für die Pkw-Insassen.
Optimierungen im Bereich der Kompatibilität der Fahrzeugstrukturen können zwar bis zu einem gewissen Grad Abhilfe schaffen. Mit zunehmender Geschwindigkeitsdifferenz sind aber schnell physikalische Grenzen gesetzt. Denn angesichts der großen Massen der schweren Nutzfahrzeuge haben Maßnahmen der passiven Sicherheit zur Minderung von Unfallfolgen nur ein eingeschränktes Potenzial. Effektive Verbesserungen sind daher primär im Bereich der Unfallvermeidung beziehungsweise der Verringerung der Unfallschwere durch den Einsatz von Fahrerassistenzsystemen zu erzielen. Dabei geht es darum, abgelenkte Fahrerinnen und Fahrer in geeigneter Weise und rechtzeitig in die Realität des Verkehrsgeschehens zurückzuholen sowie – unmittelbar bevor eine Kollision unvermeidlich wird – automatisch eine Bremsung einzuleiten. Das Nutzenpotenzial wurde in den letzten Jahren bereits vielfach untersucht. So prognostizieren zum Beispiel die Nutzfahrzeug-Experten der Strategie- und Unternehmensberatungsgesellschaft Roland Berger in ihrer 2016 erschienenen Studie „Automated Trucks – The next big disruptor in the automotive industry?“, dass intelligente Fahrerassistenzsysteme die Zahl der Lkw-Auffahrunfälle um über 70 Prozent reduzieren könnten.
Mehr Wissen über die Grenzen der Systeme
Grundsätzlich müssen alle automatischen Sicherheitssysteme hohen Anforderungen genügen. Als störend oder gefährlich empfundene „Fehlauslösungen“ führen zu einem Vertrauensverlust bei den Fahrern – im schlimmsten Fall werden die Systeme einfach abgeschaltet. In kritischen Situationen ist die volle Funktionsfähigkeit gefordert, gleichzeitig müssen die Systeme aber aus rechtlichen Gründen jederzeit durch den Fahrer übersteuert werden können.
Ebenso wichtig wie das Wissen um die Funktionalität von Assistenzsystemen ist es, dass die Fahrzeugführer deren Leistungsspektrum und vor allem deren Grenzen kennen und verstehen. Klar ist aber auch, dass sich die physikalischen Gesetzmäßigkeiten durch solche Systeme nicht außer Kraft setzen lassen. Sie erhöhen weder die Bremsleistung noch können sie den Bremsweg auf nasser oder glatter Fahrbahn verkürzen. Sie sorgen aber dafür, dass die Fahrer in kritischen Situationen gewarnt werden, um selbst Gegenmaßnahmen einzuleiten, oder – sofern diese nicht erfolgen – dass gebremst wird.
Wird dann beispielsweise mit einer Lenkbewegung zum Ausweichen reagiert, ohne dass das Bremspedal getreten wird, schaltet das System in der Regel ab, da eine übersteuernde Fahrerreaktion erfolgt. Sind an dieser Stelle die Systemfunktionen und Grenzen nicht ausreichend bekannt, besteht die Gefahr, dass die Fahrerinnen und Fahrer sich auf das automatische Bremsen verlassen und nur zum Ausweichen lenken, ohne gleichzeitig das Bremspedal zu treten. Ein Informationsdefizit, das schwerwiegende Folgen haben kann.
Riskantes Spiel durch Abschaltung der Systeme
Im Zusammenhang mit schweren Unfällen am Stauende wird häufig der Vorwurf erhoben, dass viele Fahrer den automatischen Notbremsassistenten bewusst abschalten. Belastbare statistische Daten liegen hierzu nicht vor, wären jedoch zu Zwecken der Unfallforschung wünschenswert. Eine Umfrage der DEKRA Unfallforschung bei Lkw-Fahrern lässt einen nur sehr geringen Anteil abgeschalteter Systeme erwarten. Auffällig ist aber, dass das AEBSSystem häufig mit dem Abstandsregeltempomaten (ACC) gleichgesetzt wird. Während ein AEBS erst dann bremst, wenn eine Kollision ansonsten unvermeidbar ist, bremst der Abstandsregeltempomat das Fahrzeug, sobald der eingestellte Mindestabstand zum vorausfahrenden Fahrzeug unterschritten wird. Diese Bremseingriffe werden immer dann als nervig empfunden, wenn ein überholendes Fahrzeug dicht vor dem eigenen Nutzfahrzeug einschert. Werden dann aus Unkenntnis beide Systeme abgeschaltet, fällt der Sicherheitsgewinn des AEBS weg.
Ohne Frage gibt es Anwendungsfälle und Situationen, bei denen auch ein kurzfristiges Abschalten vor allem älterer AEBS erforderlich ist. Bei Systemen der aktuellen Generation ist dies dagegen kaum noch nötig, da durch die optimierte Technik viele Fehlerquellen ausgeschlossen werden. Die Forderung, dass sich die Systeme nach einigen Sekunden automatisch wieder einschalten sollten, wird von DEKRA nachdrücklich unterstützt.
Sicherheitsgurt bleibt wichtig
Ob Electronic Stability Control, Notbremsassistent, Spurverlassenswarner oder Spurhaltesystem: Aus Sicht der Unfallforschung steht zweifelsfrei fest, dass derartige Fahrerassistenzsysteme die Verkehrssicherheit von Nutzfahrzeugen wesentlich erhöhen und dabei dem Schutz aller Unfallbeteiligten dienen. Die immer neuen Sicherheitstechniken und Fahrerassistenzsysteme dürfen über eines aber nicht hinwegtäuschen: Noch immer ist die Benutzung des Sicherheitsgurts die wichtigste Maßnahme zur Senkung des Risikos schwerer Verletzungen von Fahrzeuginsassen. Dies gilt gleichermaßen für alle Fahrzeugklassen und somit selbstverständlich auch für schwere Nutzfahrzeuge.
Die Anschnallquote ist unter den Lkw- Fahrern in den vergangenen Jahren zwar gestiegen, sie liegt aber zum Beispiel in Deutschland nach Zahlen der Bundesanstalt für Straßenwesen mit 90 Prozent immer noch unter der in Pkw mit 98 Prozent. Eine von DEKRA durchgeführte Erhebung ergab im Jahr 2014 für die Insassen von Nutzfahrzeugen über 12 Tonnen sogar nur eine Quote von rund 67 Prozent. Unfallforscher schätzen, dass mindestens die Hälfte der nicht angeschnallten Lkw-Fahrer, die bei einem Crash tödlich verunglücken, mit angelegtem Sicherheitsgurt überlebt hätte. Ebenso hat die Unfallforschung nachgewiesen, dass der Gurt bei bis zu 80 Prozent aller schweren Unfälle die Verletzungen der Nutzfahrzeug-Insassen vermindern oder sogar vermeiden würde. Bedenkt man, dass das Nutzfahrzeug in der Regel gleichzeitig auch der Arbeitsplatz seines Fahrers ist, kommt hierbei auch noch der Aspekt der Arbeitssicherheit hinzu.
Als Rückhaltesystem im Fahrzeug schützt der Gurt die Fahrzeuginsassen im angelegten Zustand vor dem Herumschleudern im Fahrzeug sowie dem Herausschleudern aus dem Fahrzeug. Durch die direkte Verbindung zur Karosserie kommt die Wirkung der Knautschzone den angeschnallten Insassen voll zugute. Die Kombination aus definierter Dehnbarkeit der Gurtbänder mit Gurtstraffer und Gurtkraftbegrenzer führt dazu, dass die Verzögerungswerte für die angeschnallten Insassen selbst bei schweren Kollisionen vertretbar bleiben. Auch die übrigen Komponenten der Ausstattung der passiven Sicherheit wie Airbags sind auf angeschnallte Insassen ausgelegt und können nur bei angelegtem Gurt ihr optimales Schutzpotenzial entfalten.