Verkehrswissen und Verkehrsverständnis

25. Apr. 2019 Faktor Mensch
Während Verkehrswissen das Reproduzieren von gelernten Begriffen, Regeln und Zeichen bezeichnet, schließt das Verkehrsverständnis zusätzlich die kognitiven Fähigkeiten ein, die erforderlich sind, um einzelne Verkehrssituationen differenziert analysieren, beurteilen und verarbeiten zu können. Jüngere Kinder tendieren dazu, Verkehrswissen auswendig zu lernen, haben aber in Realsituationen deutliche Schwierigkeiten, Regeln richtig anzuwenden oder Zeichen richtig zu deuten. Auch zeigt sich, dass die Hälfte der eigentlich bekannten Verkehrsbegriffe inhaltlich gar nicht verstanden wird. Grundsätzlich nimmt das Verkehrsverständnis über die Kindheit kontinuierlich zu. Den größten Sprung machen die Kinder mit Schuleintritt im Alter von sechs bis sieben Jahren. Es gelingt ihnen ab diesem Zeitpunkt immer besser, das Gelernte und Verstandene auf konkrete Verkehrssituationen anzuwenden, wobei die größten Schwierigkeiten an Stellen bestehen, die nicht in bekannte Raster passen. Zudem neigen Kinder lange dazu, ihr Verhalten statisch an das Gelernte und nicht an die tatsächliche Situation anzupassen. Beispielhaft sei hier der Zebrastreifen genannt, den Kinder als sichere Zone deklarieren. Daher gehen sie selbstverständlich davon aus, dass Autos in jedem Fall anhalten – mit der Folge, dass sie sich vor Betreten des Streifens nicht oder nur oberflächlich orientieren.

Perspektivwechsel

Jüngere Kinder agieren aus einem egozentrischen Weltbild heraus. Bis zum mittleren Grundschulalter nehmen sie zwar Unterschiede zwischen sich und anderen wahr, sehen sich jedoch im Mittelpunkt und gehen davon aus, dass andere die gleiche Sichtweise haben wie sie. Das Hineinversetzen in andere Verkehrsteilnehmer oder gar ein räumlicher Perspektivwechsel gelingen ihnen nicht. Klassische Beispiele hierfür sind die kindlichen Annahmen, dass man gesehen wird, wenn man selbst sieht, und dass kein Auto da ist, wenn man keines sieht, da Hindernisse die Sicht versperren.
Erst mit den Jahren entwickelt sich die Fähigkeit, andere Perspektiven zu erkennen, zu übernehmen und zu antizipieren. Dieser Prozess ist erst in der Pubertät abgeschlossen, Jugendliche sind nun in der Lage, Perspektiven ganzer Gruppen zu erkennen und im Verhalten zu berücksichtigen (alte Menschen reagieren langsamer, Autofahrer können Fußgänger und Radfahrer im Dunkeln schlechter sehen).

Kinder als Fussgänger

Auf allen Entwicklungsstufen unterscheiden sich Kinder im Hinblick auf die Verkehrsteilnahme recht deutlich von ihren erwachsenen Vorbildern. Das Gute zuerst: Kinder orientieren sich – anders als viele Erwachsene – sehr wohl an Verkehrsregeln. Wenn auch auf ihre eigene Art, nutzen sie Querungshilfen wie Fußgängerüberwege und Fußgängerampeln, überqueren die Fahrbahn auf kürzestem Weg oder bleiben bei Rot stehen.
Ansonsten ist das kindliche Verkehrsverhalten aber eher als unstet und unberechenbar zu beschreiben. Insbesondere jüngere Kinder agieren im Straßenverkehr unruhiger und schneller. Ihre Bewegungen sind weniger regelmäßig und ihre Aufmerksamkeit häufig nicht auf den Straßenverkehr gerichtet. Rennende, hüpfende, kreischende Kinder am Fahrbahnrand sind der Horror vieler Autofahrer. Sind sie gar spielend in der Gruppe unterwegs, heißt es beide Hände ans Lenkrad, Augen auf, Geschwindigkeit runter und bremsbereit sein. Denn vor dem Queren von Straßen, egal ob Haupt- oder Nebenstraßen, orientieren sich Kinder oft nicht oder zumindest nicht ausreichend. Sie blicken vorwiegend stereotyp nach links und rechts, unabhängig, aus welcher Richtung sich Fahrzeuge nähern. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sie plötzlich die Fahrbahn betreten – mit der Folge eines Unfalls, sofern der Autofahrer nicht rechtzeitig reagieren kann.
Typisch ist auch, dass Kinder sich und ihr Verhalten als Fußgänger eher statisch an die Verkehrsumwelt anpassen. Eine situative Adaption gelingt ihnen in Abhängigkeit vom Alter nicht oder nur schwer. Als Beispiel sei hier das Überqueren von Straßen zwischen parkenden Fahrzeugen genannt. Kinder bleiben an der Bordsteinkante stehen und schauen von dort, ob die Straße frei ist, auch wenn sie von dort gar nichts sehen. Hingegen halten sie an der Sichtlinie dann nicht noch einmal an und vergewissern sich an dieser Stelle auch nicht, ob die Straße wirklich frei ist. Andererseits ist es typisch, dass Kinder sich vor der Querung einer einsehbaren Straße ganz genau umsehen. Oft warten sie so lange, bis die Fahrbahn vollkommen frei ist, was bei manchen Straßen durchaus länger dauern kann.

Kinder als Radfahrer

Noch bevor Kinder das Fahrrad als eigenständiges Verkehrs- und Transportmittel nutzen, dient es ihnen als Spiel- und Sportgerät. Mit dem Vorläufer, dem Laufrad, üben schon die Kleinsten. Ein Großteil der Kinder besitzt bereits im Vorschulalter ein Fahrrad. Das Fahrradfahren ist eine komplexe Tätigkeit, die nicht nur motorische, sondern in hohem Maße auch kognitive und sensorische Fertigkeiten und Fähigkeiten erfordert. Zudem sind ausreichende Regelkenntnis und ein hinreichendes Gefahrenbewusstsein unabdingbar für eine sichere Teilnahme am Verkehr. Kinder auf dem Fahrrad müssen in der Lage sein, den Schulterblick anzuwenden, ohne dabei den Lenker zu verreißen, situationsadäquat und wirkungsvoll zu bremsen, den Straßenverkehr aufmerksam zu beobachten und sich problemlos in ihn einzufügen.
Allerdings sind Kinder von der Vielzahl der Anforderungen häufig überfordert. Vor allem jüngere Kinder sind nicht in der Lage, ohne erwachsene Hilfe die notwendigen Abläufe selbstständig durchzuführen. Sie sind daher streng genommen (noch) nicht zum Fahrradfahren geeignet. Doch auch bei älteren Kindern ist Vorsicht geboten. Für Deutschland weist das Statistische Bundesamt die höchste Verunglücktenquote bei Radfahrern für die Gruppe der 10- bis 15-Jährigen aus. Ursächlich hierfür sind vor allen Dingen Fahrfehler beim Ein- und Abbiegen oder das Nichtbeachten der Vorfahrt. Hinzu kommt, dass die Regelkenntnis insbesondere bei jungen Radfahrern häufig mangelhaft ist.
Viele Eltern erkennen die Gefährdung ihrer Kinder und lassen sie deshalb zunächst nicht allein Rad fahren. Eine Befragung des DVR im Jahr 2012 ergab, dass 56 Prozent der Eltern es ablehnen, Erstklässler allein Rad fahren zu lassen, bei den Fünf- bis Siebenjährigen waren es sogar 68 Prozent. 28 Prozent der Eltern erlauben ihren Kindern unter Einschränkung Alleinfahrten, vorausgesetzt, dass das Kind ihrer Meinung nach reif genug, die Strecke nicht zu lang und nur wenig Verkehr ist. 14 Prozent der Befragten erlaubten Erstklässlern uneingeschränkt, allein Rad zu fahren. Aus entwicklungspsychologischer Sicht lassen sich die angesprochenen Defizite nachvollziehbar begründen. Der Erwerb entsprechender Grundlagen geschieht im Kindes- und Jugendalter in Entwicklungsschritten oder -sprüngen. Eine wirkungsvolle Beschleunigung der Prozesse von außen ist nur bedingt möglich, zum Beispiel durch theoretisches und praktisches Training – allerdings auch erst dann, wenn das Kind dafür bereit ist und über die notwendigen Entwicklungsgrundlagen verfügt.
Fundamentale Voraussetzung für eine sichere Verkehrsteilnahme mit dem Fahrrad ist es, die motorischen Abläufe zuverlässig anzuwenden beziehungsweise umzusetzen. Erst wenn das Kind genügend Übung beim Radfahren hat, stehen ihm ausreichende Kapazitäten zur Verfügung, um die Verkehrsumwelt aufmerksam zu beobachten sowie sicherheitsrelevante Aspekte zu erkennen und zu beachten. Als relevante Prädiktoren für die Annahme hinreichender motorischer Radfahrkompetenz gelten: das aktuelle Alter des Kindes, das Alter des Kindes bei Beginn des Kompetenzerwerbs und die Benutzung von Laufrädern. Allgemein wird davon ausgegangen, dass Kinder bis zum Alter von acht Jahren mit der motorischen Koordination von Basisfahraufgaben und zusätzlichen, sicherheitsrelevanten Bewegungserfordernissen (Schulterblick, Handzeichen beim Abbiegen etc.) in der Regel noch überfordert sind.
Doch auch bei ausreichend motorischer Übung verwenden selbst acht- bis zehnjährige Kinder noch zu viel Aufmerksamkeit auf irrelevante Informationen. Ein ausgewogenes Multitasking, wie beim Fahrradfahren häufig notwendig, beherrschen sie noch nicht. So gewichten sie bei gleichzeitiger Ausführung einer kognitiven und einer motorischen Aufgabe die motorische höher. Das hat zur Folge, dass sich das Erkennen sicherheitsrelevanter Hinweisreize verzögert, sich dadurch die Reaktionszeit verlängert und das Risiko von Unfällen unter Berücksichtigung der deutlich höheren Geschwindigkeit mit dem Rad verglichen mit dem Laufen steigt. Auch zwölfjährige Kinder brauchen noch mehr Zeit zur Reaktion als Erwachsene.
Kritisch zu sehen ist auch, dass Kinder ihre Radfahrkompetenz deutlich überschätzen und sich im Vergleich zu ihren tatsächlichen Möglichkeiten zu riskant im Straßenverkehr bewegen. Aus psychologischer Sicht lassen sich zwei Entwicklungssprünge ausmachen. Mit sieben bis acht Jahren und mit 13 bis 14 Jahren kommt es zu deutlichen Leistungsverbesserungen, so unter anderem bei der Reaktionszeit und beim schlenkerfreien Geradeausfahren. Aber auch nach dem Ausreifen der kognitiv-motorisch-sensorischen Parameter werden Jugendliche nicht automatisch zu zuverlässigen und sicheren Verkehrsteilnehmern. Denn ein entwicklungsbedingt geringeres Gefahrenbewusstsein und die Neigung zu Selbstüberschätzung lassen das Unfallrisiko wieder ansteigen. Beispielhaft hierfür sind die Neigung zu riskanten Fahrmanövern (freihändiges Fahren, Benutzung von Kopfhörern) und die nachlassende Bereitschaft der Jugendlichen, Fahrradhelme zu tragen.
Andere Länder machen hier deutlich mehr Vorgaben. Der Gesetzgeber räumt dort dem Schutz von Kindern an dieser Stelle einen höheren Rang ein und schreibt die Helmnutzung bis zum Alter von 16 Jahren generell gesetzlich vor. Außerorts besteht dort, unabhängig vom Alter, Radhelmpflicht.