Rahmenbedingungen für Maßnahmen zum Erhalt der individuellen Mobilität und zur Erhöhung der Verkehrssicherheit
Wie zu Beginn dieses Kapitels schon angedeutet, dürften die Veränderungen in der Alterspyramide sowie ein steigender Anteil an Führerscheininhabern unter der heute noch jüngeren Bevölkerung dazu führen, dass langfristig mehr Senioren am Steuer auf deutschen Straßen unterwegs sein werden. Eine besondere Herausforderung stellt dabei die Lösung des Konflikts zwischen dem Erhalt der eigenständigen Mobilität von Senioren auf der einen Seite und der Minimierung des von älteren Kraftfahrern ausgehendenden Risikopotenzials auf der anderen Seite dar. Um hier präventiv zu wirken, befürworten Experten die Bündelung verschiedener Lösungsansätze. Dabei kommen neben Überwachungs-, Beratungs- und Begutachtungsmaßnahmen (Enforcement/Education/Examination) auch Gestaltungslösungen (Engineering, Nutzung von Fahrerassistenzsystemen) sowie integrative Mobilitätskonzepte in Betracht. Bevor diese Lösungsansätze diskutiert werden, lohnt ein Blick aus der „Drohnenperspektive“ auf einschränkende Faktoren und Charakteristika bei älteren Kraftfahrern.
Da ist zunächst die Unterscheidung zwischen dem biologischen und dem kalendarischen Alter. Während das biologische Alter eine Diagnose des körperlichen Zustandes repräsentiert, basiert das kalendarische Alter auf dem Geburtsdatum einer Person, wobei zwischen beiden keine direkt lineare Beziehung besteht. Die Altersverläufe sind zu heterogen und durch zu viele Merkmale beeinflusst. Ab dem 35. Lebensjahr ist durch arteriosklerotische Vorgänge das menschliche Gefäßsystem betroffen, wodurch die Leistungsfähigkeit wichtiger Organe beeinträchtigt werden kann. Dieser natürliche Wandel des Organismus bestimmt das biologische Alter, das unabhängig vom kalendarischen Alter den Einzelnen früher oder später altern lässt.
Die Diskrepanzen zwischen biologischem und kalendarischem Alter führen zu der Schlussfolgerung, die einzelnen Altersphasen nicht am Kalender festzumachen, sondern an den verbliebenen Kompetenzen, die der alternde Mensch in den unterschiedlichen Funktions- und Lebensbereichen noch hat. Seit den 1980er-Jahren interessieren sich die Gerontologen daher mehr für das funktionale Alter – mit dem Ziel, das Altern eher als Entwicklungsprozess mit biologischen, sozialen und psychischen Komponenten zu betrachten. Das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebene Klassifizierungssystem mit der Bezeichnung ICF (International Classificiation of Functioning, Disability and Health) bewertet übergreifende Funktionen, Fähigkeiten und Ressourcenstärken, darunter Faktoren der Persönlichkeit, Einstellungen und Verhaltensgewohnheiten. Dies eröffnet den Blickwinkel für Feststellungen, wie die Betroffenen mit ihrer Einschränkung umgehen. Gesundheitliche Einschränkungen reduzieren die körperlich- geistige Funktionalität, vor allem bei Demenz, und bei erkrankten Menschen dominieren krankheitsbezogene Verluste das funktionale Alter.
Die graduelle Verschlechterung sensorischer, kognitiver und motorischer Fähigkeiten und die damit verbundenen möglichen Einschränkungen im Mobilitätsverhalten erschweren es älteren Menschen oftmals, sich diese Änderungen einzugestehen, sie zu akzeptieren und sich in der Folge mit deren Kompensation zu beschäftigen. Der „Better than average“-Effekt wurde bereits genannt, aber auch Scham, die hohe subjektive Bedeutung der Fahrerlaubnis und regionale Mobilitätshemmnisse infolge unzureichender Alternativangebote können zu einer verzerrten Selbsteinschätzung beitragen. Eine realistische Einschätzung der Gesamtsituation ist allerdings notwendig, um im Straßenverkehr verantwortungsvoll zu handeln. Prinzipiell ist es für den Erfolg von trainingsbasierten Ansätzen oder Beratungsprogrammen, aber auch für die Nutzung alternativer Mobilitätskonzepte oder technischer Hilfsmittel wie Fahrerassistenzsystemen von entscheidender Bedeutung, ob die Teilnehmer die Nützlichkeit solcher Angebote erkennen und akzeptieren sowie eine fundierte Bereitschaft zeigen, sich von „alten Pfaden“ zu lösen.
RÜCKMELDEFAHRT ALS MÖGLICHE HANDLUNGSOPTION
Wie ist nun das Lagebild zu älteren Kraftfahrern in verkehrspolitische und -strategische Perspektiven sowie Handlungsnotwendigkeiten zur Erhöhung der Verkehrssicherheit einzuordnen? Zunächst gilt es hervorzuheben, dass die Gruppe der älteren Autofahrer im Vergleich zu jüngeren Kraftfahrern per se keine besondere Risikogruppe darstellt. Der größte Teil der Senioren kann die altersbedingten sensorischen, kognitiven und motorischen Defizite durch Fahrerfahrung und defensiven Fahrstil kompensieren.
Allerdings deutet sich an, dass ein ständig anwachsendes Dunkelfeld mit potenziell gemindert leistungsfähigen oder nicht mehr leistungsfähigen älteren Kraftfahrern nach standardisierten und fairen wie gleichsam verhältnismäßigen und transparenten Lösungen verlangt. Dies war auch der Tenor beim 55. Deutschen Verkehrsgerichtstag Anfang 2017 in Goslar im Arbeitskreis III („Senioren im Straßenverkehr“). Der Arbeitskreis sprach sich dafür aus, dass ältere Kraftfahrer in ihrer Eigenverantwortung unterstützt werden, rechtzeitig zu prüfen, ob und wie sie auf eventuelle Einschränkungen ihrer Fahreignung angemessen reagieren müssen.
Zur Verbesserung einer realistischen Selbsteinschätzung wurde durch den Arbeitskreis die Einführung einer qualifizierten Rückmeldefahrt vorgeschlagen. Diese soll dabei nicht in erster Linie das etwaige Einstellen des Fahrens zum Ziel haben, sondern Möglichkeiten zum Erhalt einer sicheren Mobilität aufzeigen. Dies würde Angehörige bei der Ansprache von Zweifeln an der Fahrtauglichkeit des betreffenden Familienmitglieds entlasten und durch qualifizierte Rückmeldung könnten die Senioren Maßnahmen zum Kompetenzerhalt ergreifen.
DIE AKZEPTANZ EINER FAHRBEGLEITUNG IST WICHTIG FÜR DEN ERFOLG
Die Rückmeldefahrt als freiwilliges Instrument zur Verbesserung der Selbsteinschätzung des Kraftfahrers besteht aus einem Datenerhebungsteil, bei dem es darum geht, im Zuge einer Beobachtung des Fahrverhaltens Fahrfehler nach einheitlichen Kategorien zu erheben und auszuwerten. In einem zweiten Schritt werden die Ergebnisse dem Kraftfahrer erläutert und mit Vorschlägen und Hinweisen verknüpft, die der Verbesserung und dem Erhalt der Fahrkompetenz dienen. Als Partner mit einem flächendeckenden Angebot scheinen in Deutschland Technische Prüfstellen und Begutachtungsstellen für Fahreignung, die den Grundsätzen von Neutralität, Unabhängigkeit sowie Unparteilichkeit verpflichtet sind und über ein zertifiziertes Qualitätsmanagement-System verfügen, für solche Aufgaben prädestiniert. Als Fahrbegleiter käme daher entweder ein Verkehrspsychologe oder ein amtlich anerkannter Sachverständiger oder Prüfer in Betracht.
Daneben könnte ein Fahrlehrer in Fortschreibung der bisherigen Regelungsarchitektur verkehrspädagogische Aufgaben übernehmen, zum Beispiel die Vorbereitung auf eine Rückmeldefahrt oder eine verkehrspädagogische Nachschulung in Theorie und/ oder Praxis. Der Fahrbegleiter klärt den älteren Kraftfahrer über Stärken und Schwächen auf und gibt Hinweise zur Verbesserung des Fahrverhaltens. Bei Fällen mit Gefährdungspotenzial, zum Beispiel bei einer Fehlerhäufung, wiederholt grob verkehrswidrigem Fahrverhalten oder offensichtlichen, wiederholt beobachteten Schwierigkeiten bei „alterskritischen“ Fahrmanövern – zum Beispiel Abbiegen, Rückwärtsfahren, Wenden, Ein- und Ausfahren, Mindestabstand sowie Verhalten an Knotenpunkten und im Zusammenhang mit Vorrangregelungen – wäre eine weiterführende Abklärung der Ursachen für diese Auffälligkeiten angezeigt. Diese Aufgabe könnten verkehrspsychologische und/ oder verkehrsmedizinische Sachverständige in den Begutachtungsstellen für Fahreignung übernehmen.
ALTERSABHÄNGIGE OBLIGATORISCHE ÜBERPRÜFUNG
Was aber tun, wenn die Unfallzahlen unter den älteren Fahrern weiter stetig steigen und sich abzeichnet, dass anlassbezogene Untersuchungen und freiwillige Rückmeldefahrten diesen Trend nicht aufhalten können? Wenn Eigenverantwortung sozusagen verweigert wird? Dann sollte die Balance zwischen Eigenverantwortung und staatlicher Regulation neu überdacht werden. Dabei erscheint es fachlich geboten, aber auch verhältnismäßig, eine altersabhängige obligatorische Überprüfung vorzusehen. Als Mindestalter wird 75 Jahre vorgeschlagen. Wenn zuvor freiwillige Rückmeldefahrten in Anspruch genommen wurden, könnte der Termin zur „Pflichtüberprüfung“ schrittweise und maximal um bis zu fünf Jahre nach hinten verlagert werden. Dann läge das Eintrittsalter zur Pflichtüberprüfung bei 80 Jahren.
Diese Verknüpfung von freiwilligen Maßnahmen mit dem Eintrittsalter zur Pflichtuntersuchung wäre ein Anreiz für die Inanspruchnahme freiwilliger Maßnahmen. Hier könnten auch Trainingsprogramme zur Verbesserung der Fahrkompetenz Älterer berücksichtigt werden, darunter Fahrsicherheitstrainings zur verbesserten Bewältigung von Gefahrensituationen, oder auch Informations- und Beratungsangebote. In Deutschland zum Beispiel vermittelt das an der Universität Leipzig entwickelte Programm „Mobil 65+“ Wissen etwa über altersbedingte Veränderungen der Sinnesfunktionen sowie über Aus- und Nebenwir- Auch Fahrschulen bieten Fitness-Checks für kungen von Medikamenten, darüber hinaus ver- Senioren an bessert es durch Übungen die Beweglichkeit, unter anderem im Bereich der Schulter-/Nackenmuskulatur, und stärkt die Widerstandsfähigkeit gegenüber Belastungen durch Entspannungsübungen. Ein weiteres Beispiel für solche Trainingsprogramme ist die Initiative „Mensch & Auto – Sicherheit ist Einstellungssache“ der Deutschen Seniorenliga. Die Initiative vermittelt Wissen zur Fahrtauglichkeitseinschränkung durch Medikamente, zur richtigen individuellen Sitz-, Gurt- und Spiegeleinstellung sowie zum Einsatz von Fahrerassistenzsystemen.
AUFFÄLLIGKEITEN SIND IMMER ABZUKLÄREN
Die „Pflichtüberprüfung“ könnte eine Kombination aus einer Fahrverhaltensbeobachtung und der Vorlage eines Gesundheitszeugnisses vor Fahrtantritt umfassen. Dieser orientierende „Gesundheitscheck“ sollte eine Aussage zu kognitiven Funktionen („keine Hinweise auf Demenz“), Multimorbidität sowie zu gesundheitlichen Risikofaktoren und einen Sehtest enthalten. Bei Auffälligkeiten wäre eine gutachterliche Überprüfung fällig, denn das Ausmaß an Leistungseinschränkung sowie Art, Schwere und Verlauf von gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Erkrankungen müssen stets im Einzelfall, zusammen mit Chancen und Grenzen individueller Kompensationsmöglichkeiten sowie gegebenenfalls assoziierten weiteren Risikofaktoren, im Rahmen einer Begutachtung gegeneinander abgewogen werden. Dies bedarf einer umfassenden Expertise durch die Fachleute in den Begutachtungsstellen für Fahreignung.
BIELEFELDER ON-ROAD-STUDIE
In der von 2017 bis 2019 vom Evangelischen Klinikum Bethel durchgeführten und geleiteten Bielefelder On-Road-Studie wurde eine per Zeitungsannonce gewonnene Stichprobe von älteren Kraftfahrern umfassend neuro- und verkehrspsychologisch untersucht. Weiterhin wurden Angaben zu gesundheitlichen Aspekten, wie etwa Vorerkrankungen oder Medikamenteneinnahme, aber auch zur Biografie und Verkehrsvorgeschichte (gefahrene Jahreskilometer, Unfälle) eingeholt.
Insgesamt konnten 89 Probanden (33 Frauen und 56 Männer) im Alter von 63 bis 94 Jahren (Mittelwert 77 Jahre) untersucht werden. Nach einer psychologischen Fahrverhaltensbeobachtung, die 85 Studienteilnehmer absolvierten, wurden die Teilnehmer anhand standardisierter Protokolle, die die Verkehrsteilnahme erfassten, in vier Kategorien eingeteilt, die wiederum zwei übergeordneten Bereichen zugeordnet werden konnten (fit oder unfit; in Klammern die Anzahl der zugeordneten Probanden):
Fit | Unfit |
Uneingeschränkte Fahrtüchtigkeit ohne Fahrstunden gegeben (41) | Noch nicht uneingeschränkt fahrtüchtig; Fahrstunden vorgeschlagen (24) |
Uneingeschränkte Fahrtüchtigkeit mit Fahrstunden gegeben (16) | Nicht fahrtüchtig (4) |
Nahezu die Hälfte der Stichprobe (41) konnte ohne jegliche Bedenken und Auffälligkeiten die Fahrverhaltensbeobachtung absolvieren und bekam dies entsprechend positiv mitgeteilt. 16 Teilnehmer zeigten wiederholt Fehler, die jedoch noch nicht in den kritischen Bereich eingeordnet wurden (zum Beispiel Spurwechsel, ohne Gefährdung anderer), und bekamen die Empfehlung, Fahrstunden zu nehmen, um das unsichere Fahrverhalten mittels Fahrtraining abzubauen. Eine Gruppe von 24 Probanden zeigte teils erhebliche Fehler, die sowohl im Bereich der Fahrzeugbedienung als auch der Anpassung an das Verkehrsgeschehen lagen. Diese Verhaltensweisen waren nicht ausschließlich auf kognitive Einschränkungen zurückzuführen, wie zum Beispiel eine verlangsamte Re-aktion, sondern auch auf persönlichkeitsrelevante Einstellungen. Beispielsweise gestanden sich einige Teilnehmer eine „zeitliche Toleranz“ bei roten Ampeln zu oder hielten auch die Regelungen an Zebrastreifen für Auslegungssache.
FÜHRERSCHEINENTZUG SOLLTE IMMER DIE LETZTE OPTION SEIN
Während somit circa die Hälfte der Teilnehmer zwar Fehler bei der Verkehrsteilnahme zeigte, war dies im Urteil des Verkehrspsychologen und auch Fahrlehrers noch durch Fahrstunden mit Training spezifischer Manöver (beispielsweise Abbiegeverhalten und Spurwechsel) korrigierbar. Lediglich vier Teilnehmer zeigten derart große Auffälligkeiten, dass ihnen dringend empfohlen wurde, nicht mehr aktiv am Verkehr teilzunehmen. Diese Einstufung setzte in der Regel wiederholte Eingriffe des Fahrlehrers bei der Fahrt voraus (Bremsen, Lenkeingriff), sodass die Fahrt ohne Korrektur nicht unfallfrei abgelaufen wäre.
Die statistische Auswertung ergab, dass es signifikante Unterschiede in der Qualität der Verkehrsteilnahme zwischen den Altersklassen gab: So waren 78,6 Prozent der Teilnehmer, die eine Einstufung in „unfit“ bekommen hatten, älter als 75 Jahre und nur 21,4 Prozent der als gegenwärtig nicht fahrtüchtig bewerteten Teilnehmer unter 75 Jahren. Die Ergebnisse des Computertests waren auch im realen Verkehrsverhalten zu beobachten: Die Gruppe der über 75-jährigen Teilnehmer wies einen sehr starken Zusammenhang zu Fehlern im Bereich „risikobezogene Selbstkontrolle“ auf (zum Beispiel angemessene Geschwindigkeit), während die im Vergleich jüngeren Studienteilnehmer hier keinerlei Zusammenhänge aufwiesen und die Fähigkeit zu sicherheitsbezogenem Fahrverhalten überwiegend unbeeinträchtigt war. Für beide Altersgruppen hingegen stellten die aus der Unfallstatistik bekannten Bereiche des Kreuzungsgeschehens (Abbiegen, Erkennen von Gefahren) oftmals besonders kritische Punkte während der Verkehrsteilnahme dar.
Fazit: Es ist heute möglich, individuelle Stärken und Schwächen älterer Fahrer zu identifizieren. Neben umfangreichen Erkenntnissen zu Risiko- und Schutzfaktoren existieren valide Konzepte zur fundierten Diagnostik, die durch Methoden der Beobachtung des Fahrverhaltens und der Rückmeldefahrt ergänzt werden können. Vor einschneidenden Maßnahmen wie Führerscheinentzug oder der Überprüfung der Fahreignung sollten freiwillige Angebote gestellt werden, die nach individueller Beratung beispielsweise zum Training im Realverkehr führen, zu einem kognitiven Leistungstraining oder zu einer weiteren medizinischen Abklärung. Es gibt diesbezüglich bereits zahlreiche Maßnahmen, die erprobt sind und nachweislich positive Effekte zeigen. Für ihre breitere Anwendung – auf freiwilliger Basis und anlassbezogen – müssen mehr Anreize geschaffen werden. Der Mobilitätserhalt sollte oberste Priorität behalten. Obligatorische Maßnahmen sollten evidenzbasiert ab dem 75. Lebensjahr erfolgen und auf die Ausprägung von Mindeststandards zum sicheren Führen von Kraftfahrzeugen fokussieren.