Stress/ Belastung/ Ablenkung
Nach dem Modell von Matthews entsteht Stress beim Fahren dann, wenn umweltbezogene Stressoren wie schlechte Sicht, schlechte Straßenverhältnisse oder Verkehrsbehinderungen sowie Persönlichkeitsfaktoren unteragieren. Subjektiv wird Stress zum Beispiel als Angst, Ärger oder Müdigkeit erlebt. In einer Befragungsstudie (Evers, 2010) von 555 Lkw-Fahrern wurde der Einfluss von Stress und Belastungen auf das Verkehrsverhalten untersucht. Die Befragung der Fahrer ergab, dass diese im Schnitt 63,2 Stunden pro Woche arbeiten, wobei 46,6 Stunden reine Fahrzeiten sind. In 80,1 Prozent der Fälle sind die Fahrer im Fernverkehr tätig. Etwa ein Drittel der Fahrer kommt meist circa eine Woche lang nicht nach Hause. Als Belastung gaben die Fahrer besonders häufig verkehrliche Bedingungen an – vor allem unzureichende Rastmöglichkeiten, hinderliches, riskantes oder aggressives Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer, schlechte Straßen, hohe Verkehrsdichte und Stau. Aber auch Zeitprobleme werden sowohl bezüglich des privaten Bereichs (Freizeit, Familie) wie auch im logistischen Bereich (Ladeverzögerung, schlechte Tourenplanung) als belastend erlebt.
Dass die subjektiv empfundenen Belastungen auch mit einem gewissen Unfallrisiko verbunden sind, erscheint zwar intuitiv nachvollziehbar. Dies lässt sich aber schlecht anhand von Unfallstatistiken belegen, denn hier geht in der Regel als Unfallursache das ein, was die Polizei feststellt, wenn sie zu einem Unfall gerufen wird. Es kann also zum einen davon ausgegangen werden, dass bestimmte Unfallursachen statistisch nicht erfasst werden können, weil die Unfälle nicht gemeldet werden, zum Beispiel wenn ein geringfügiger Schaden bei einem Alleinunfall entsteht. Zum anderen lassen sich stressinduzierte Unfallursachen wie Ablenkung, Unruhe oder Müdigkeit nach einem Unfall für die Polizei nur schwer feststellen. Anders als bei Alkohol oder Drogen im Blut gibt es dafür kein Messinstrument.
Eine Befragung verunfallter Lkw-Fahrer ergab bereits 1995 Hinweise darauf, inwiefern Ablenkung, Stress oder Müdigkeit bei einem Unfall eine Rolle spielen. So gaben von den 55 verunfallten Fahrern insgesamt 15 „Übermüdung“ als Unfallursache an, gefolgt von zehn, die Eile oder Zeitdruck als ursächlich benannten. Auch Ablenkung durch äußere Reize wurde von acht Fahrern als Unfallursache benannt. Auf die Frage nach ihrem eigenen psycho- physischen Zustand unmittelbar vor dem Unfall antworteten 21 der Befragten mit „ärgerlich“, 17 mit „unruhig“, 12 mit „müde“ und 10 mit „aggressiv“. Hier wird deutlich, dass das Verhalten der Unfallfahrer ebenso wie deren Gemütszustand bei einem Unfall durchaus von Bedeutung sind, auch wenn sich dies in der Unfallstatistik selbst nicht abbilden lässt. So berichtete das britische Verkehrsministerium im Jahr 2013, dass bei 2.995 Unfällen (drei Prozent aller Unfälle) Ablenkung im Fahrzeug eine Rolle gespielt hat. Diese verliefen in 84 Fällen tödlich (sechs Prozent aller Unfälle mit Todesfolge).
Europaweit variieren die Unfallzahlen durch Ablenkung erheblich. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass es keine einheitliche Definition für das Konstrukt „Ablenkung“ oder auch „Unaufmerksamkeit“ gibt. Nach Kinnear und Stevens lassen sich vier Arten von Ablenkung unterscheiden:
1. Kognitive oder mentale Ablenkung tritt auf, wenn ein Fahrer sich im Geist mit anderen Tätigkeiten, die für eine sichere Fahrweise nicht notwendig sind, beschäftigt. Dadurch werden mentale Ressourcen beansprucht, die eigentlich für die fehlerfreie Bewältigung der Fahraufgabe nötig wären.
2. Visuelle Ablenkung tritt auf, wenn der Fahrer nicht auf die Straße sieht, weil er zum Beispiel den Blick weg von der Straße hin zu Radio, Handy, Außenwerbung etc. wendet.
3. Von auditiver Ablenkung wird gesprochen, wenn der Fahrer seine Aufmerksamkeit einem Geräusch zuwendet. Diese Form der Ablenkung geht häufig mit weiteren einher – etwa wenn man versucht, einem Gespräch zu folgen, welches dann kognitive Ressourcen bindet. Andererseits können akustische Warnhinweise des Fahrzeugs die Aufmerksamkeit des Fahrers auch auf den Fahrzeugzustand lenken.
4. Manuelle Ablenkung beschreibt das Loslösen einer oder beider Hände von dem Lenkrad, um andere Aktivitäten, wie Essen, Trinken oder das Bedienen von Geräten, auszuführen.
Natürlich treten die verschiedenen Ablenkungen nicht unbedingt losgelöst voneinander auf. Wie sehr sich die Ablenkung auf eine sichere beziehungsweise unsichere Fahrweise auswirkt, hängt auch von deren Intensität, der Fahrsituation (Anhalten an roter Ampel vs. dichter Stadtverkehr) und dem Zeitpunkt (zum Beispiel gleichzeitiges unerwartetes Ereignis) zusammen. In untenstehender Tabelle werden einige gängige Nebentätigkeiten beispielhaft hinsichtlich ihres Einflusses auf die Art der Ablenkung und die Dauer, für die der Fahrer wahrscheinlich abgelenkt wäre, dargestellt.
Multitasking ist ein Mythos
Der Grund für die besondere Gefahr von Ablenkung am Steuer liegt darin, dass der Mensch nicht mehrere Dinge gleichzeitig erledigen kann. Versucht er dies dennoch, behindern sich die Aufgaben gegenseitig. Das liegt daran, dass bei der Ausübung einer Doppelaufgabe das Gehirn nicht beide Aufgaben gleichzeitig fokussiert, sondern stets zwischen beiden Anforderungen hin und her schaltet. Dadurch verschlechtert sich die Leistung in beiden Aufgaben, weil man darum kämpft, seine Aufmerksamkeit zu verteilen. Da das Fahren eine komplexe Aufgabe ist, die allein ausgeführt schon verschiedene kognitive Prozesse bindet, bedeutet die Aufnahme einer weiteren Tätigkeit während des Fahrens, dass der Fahrer nicht mehr über genügend Aufmerksamkeitsressourcen für die Erfüllung seiner eigentlichen Fahraufgabe verfügt. Dies führt dann zu Verarbeitungsfehlern und damit verbunden zum Verlust der Kontrolle über die eigentliche Fahraufgabe, was wiederum den Fahrer selbst und alle anderen Verkehrsteilnehmer in hohe Gefahr bringt.
Gerade Berufskraftfahrer müssen sich häufig mit der eingebauten Fahrzeugtechnik auseinandersetzen. Sie verbringen viel Zeit in ihren Fahrzeugen und stehen häufig unter Zeitdruck. In einer Studie aus dem Jahr 2009 (Olson et al.) wurde berichtet, dass in 56,5 Prozent der sicherheitsrelevanten Vorkommnisse die Fahrer einer Nebentätigkeit beim Fahren nachgingen. Darüber hinaus stieg die Wahrscheinlichkeit für ein solch kritisches Ereignis bei Fahrern, die während der Fahrt Textnachrichten schrieben, um das 23-Fache.
Möglichkeiten der Gesundheitsförderung bei Berufskraftfahrern
Aus den beschriebenen Veränderungen des Berufsbildes von Berufskraftfahrern resultieren eine Vielzahl besonderer psychischer und physischer Arbeitsbelastungen und somit auch ein erhöhtes Risiko für gesundheitliche Beschwerden und Erkrankungen. Dabei sind das Anforderungsprofil und die damit verbundenen Arbeitsplatzbedingungen sehr unterschiedlich und insbesondere abhängig vom Transportgut, der Strecke des Transportweges und der Organisation der Arbeitsaufgabe. Die wesentlichen Belastungsfaktoren, die eine Vielzahl von Arbeitsplätzen von Berufskraftfahrern betreffen, seien hier noch einmal genannt: ungünstige Arbeitszeiten/Schichtarbeit, lange Lenkzeiten, Zeitdruck, physikalische Umgebungsbelastungen wie Lärm, Abgase und Lichtverhältnisse, Monotonie und soziale Isolation am Arbeitsplatz, häufig mehrtätige Abwesenheit vom Heimatort, hohe Anforderungen durch EDV-gestützte Assistenzsysteme, langes Sitzen und Bewegungsarmut, Ganzkörpervibration, Lastenhandhabung und die Arbeit mit Gefahrstoffen. Folgen dieser besonderen Arbeitsbelastungen können Schlafstörungen, akute und chronische Müdigkeit und damit einhergehend ein erhöhtes Unfallrisiko sein.
Berufskraftfahrer weisen häufig einen riskanten Lebensstil im Hinblick auf das Ernährungsverhalten und den Tabakkonsum auf. Eine Folge der statischen Arbeitshaltung am Lenkrad und der hohen körperlichen Belastung sind Beschwerden des gesamten Bewegungsapparates, insbesondere des Rückens. Berufskraftfahrer haben ein signifikant erhöhtes Risiko für Bandscheibenerkrankungen der Lendenwirbelsäule, Herz-Kreislauf- Erkrankungen, Übergewicht, Magengeschwüre und Bronchialkarzinome.
Aus dieser Aufzählung wird deutlich, dass die Einführung eines betrieblichen Gesundheitsmanagements für Berufskraftfahrer eine sehr hohe Bedeutung zur Erhaltung von Leistungsfähigkeit, Wohlbefinden und letztlich Vermeidung von Unfallrisiken besitzt. Allerdings stellen die dem Beruf immanente Mobilität und der überwiegende Aufenthalt außerhalb des Betriebsstandortes eine große Herausforderung für die Umsetzung von klassischen Maßnahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung dar.
Gerade die Speditions- und Transportbranche weist zudem einen hohen Anteil an Klein- und Kleinstunternehmen auf, die für die Betriebliche Gesundheitsförderung bisher generell schwer erreichbar sind. Hier spielt die Betriebliche Gesundheitsförderung gegenüber dem Arbeits- und Gesundheitsschutz oft lediglich eine untergeordnete Rolle. Arbeitgeber können aber durch intensive Aufklärung und Vernetzung von Institutionen mit Präventionsauftrag unterstützt und motiviert werden, im Bereich Gesundheitsförderung aktiv zu werden. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Initiierung überbetrieblicher, branchenspezifischer Qualitäts- und Gesundheitsnetzwerke.
Bestehende Konzepte für mobile Beschäftigte können auch auf Berufskraftfahrer übertragen werden. Beispiele sind das Konzept eines betrieblichen Gesundheitslotsen, der für Fahrer auch aus der Ferne ansprechbar ist, ein gezielter Einsatz mobiler Gesundheits-Apps, Verträge mit Fitnessstudios „unterwegs“, das „Fitnessstudio im Lkw“ oder Unterstützung zur gesunden Ernährung unterwegs („Lunchpaket“).
Gesundheitsfördernde Maßnahmen sollten grundsätzlich immer aus den identifizierten Belastungen abgeleitet werden. So wurden zum Beispiel in einer Befragung von Michaelis die Vermittlung allgemeiner Strategien zur Vermeidung von Müdigkeit am Steuer und Themen zur gesunden Ernährung und Vermeidung von Tabakkonsum gewünscht.
Aufgrund der besonderen physischen und psychischen Belastungen von Berufskraftfahrern besteht eindeutig Handlungsbedarf im Bereich Betriebliche Gesundheitsförderung für diese Berufsgruppe. Die Zugangsmöglichkeiten zu Berufskraftfahrern müssen, im Vergleich zu anwesenden Beschäftigten, kreativer gewählt werden. Grundsätzlich sollte der Zeitaufwand für Maßnahmen zumindest anteilig auf die Arbeitszeit angerechnet werden. Am ehesten erfolgversprechend sind möglicherweise niedrigschwellige Angebote mit geringen Formalitäten, Eingangsvoraussetzungen und Vorwissen, zum Beispiel auf Rastplätzen und Autohöfen.